Nach diesen Stadtbummel- und Ruhetagen geht es am Donnerstagmorgen gut gelaunt weiter. Das Wetter ist immer noch angenehm und wir fahren in bester Laune am Rhein-Rhone-Kanal (Canal du Rhône au Rhin) entlang, um schließlich kurz hinter Krafft den Rhein wieder zum deutschen Ufer hin zu überqueren. Weiter geht es nach Lahr, wo Alfred wohnt, mit dem wir vor fünf Jahren in der Jugendherberge von Burg auf Fehmarn das Segeln gelernt haben. Leider stellen wir fest, daß wir seine Adresse nicht mitgenommen haben und uns - selbst nach längerem Debakeln - auch nicht auf seinen Nachnamen besinnen können. Also durchqueren wir Lahr ohne ihn heimgesucht zu haben und bleiben für diesen Tag auf dem nahegelegenen Campingplatz am östlichen Ende der Stadt.
Es ist kein schlechter Platz dort, den wir bekommen. Schöne Aussicht ins Tal garantiert, guter Untergrund für den Zeltaufbau - nur die Wiese ist etwas abschüssig nach allen Seiten. Nun, das trübt die Nachtruhe nicht. Allerdings finden wir uns am nächsten Morgen wie in einen Sack gewickelt wieder, da wir in der Nacht langsam aber sicher mit Luftmatratze und Schlafsack bergabgerutscht sind, während das Zelt durch die Heringe genügend Halt hatte, dort zu bleiben, wo wir es am Abend zuvor aufgestellt hatten.
Jetzt geht es ins Schuttertal mit seinen eher sanften Bergwiesen und hinter Schweighausen machen wir uns auf, die Hochebene von Ottoschwanden zu erklimmen. Hier scheint das Dach des Schwarzwaldes zu sein - obwohl es in Wirklichkeit gar nicht so weit oben ist. Man hat einen ganz phantastischen Ausblick in die sanft geschwungenen Täler mit ihren dunklen Waldeinfassungen, denn die hohen dunklen Nadelbäume, die dem Schwarzwald seinen Namen gaben, finden sich hier auf dem Hochplateau selbst kaum.
Nun, auch die schönste Strecke ist einmal zu Ende und so geht es wieder hinab von der Höhe über Sexau nach Lörch, wo wir in das Elztal abbiegen, schließlich in die Orgelstadt Waldkirch an der Elz kommen und dort für den Rest dieses Tages auf dem Campingplatz "Elztalblick" bleiben. Jetzt müssen wir uns entscheiden: Nach Süden ins berühmte Glottertal oder weiter an der Elz entlang und hinüber nach Triberg zu den mindestens ebenso berühmten Wasserfällen?
Die Entscheidung fällt für Triberg, weil das Glottertal doch sehr wahrscheinlich von allzu vielen motorisierten Touristen heimgesucht sein wird und uns der Sinn so ganz und gar nicht nach Autoabgasen steht. Daher geht es durch das herrliche Elztal über Gutach, Elzach, Prechtal hinauf nach Oberprechtal und von dort wieder hinunter nach Hornberg im Gutachtal. Es ist Sonnabend und schon ziemlich fortgeschrittener Mittag, als wir im Gutachtal ankommen und so hält sich der Verkehr - trotz Bundesstraße - in Grenzen. Aber wir wollen doch mal sehen, wie steil der Aufstieg bei Eisenberg wirklich ist, für den die Eisenbahn, die hier sonst immer parallel zur Straße durch das Tal fährt, in verschiedenen Tunneln verschwindet und eine ziemlich große Schleife fährt, um die Steigung durch Streckenlänge auszugleichen. Leider kommt gar keine Bahn an uns vorbei. Nur, die Steigung ist wirklich anstrengend, zumal das Wetter den Tag über immer sonniger geworden ist.
Leicht erschöpft erreichen wir Triberg und entscheiden uns, dort in die Jugendherberge zu gehen; vielleicht hat man ja ein Familienzimmer für uns. Leider ist die Herberge am östlichen Stadtrand des Ortes und nach kurzer Fahrt durch die Stadt wird die Straße immer steiler. An Fahren ist - selbst mit 10 Gängen bzw. mit dem Spezial-Bergritzel - überhaupt nicht mehr zu denken und es ist Schieben angesagt. Ab und an kommen Wanderer an uns vorbei und Autofahrer hupen fröhlich, ob unserer Plackerei. Dann endlich ein Schild, das diese Strapaze erklärt: 24% Steigung. Uns bleibt die Luft weg. Wie lange soll das denn noch weitergehen? Ein Ende der Straße ist gar nicht abzusehen und jetzt brennt auch noch die Nachmittagssonne aus einem wolkenlosen Himmel erbarmungslos auf uns herab.
Nach etwa zwei Stunden haben wir den Berg erklommen und stehen einer lachenden Meute von Herbergsinsassen gegenüber, die vor dem Haus auf ein paar Bänken sitzen: "Kommt Ihr auch schon?" "Wir haben schon vor einer Stunde Bescheid gesagt, daß Ihr noch kommt." "Die Anmeldung ist zwar schon geschlossen, aber wenn Ihr euch beeilt, nimmt man Euch vielleicht noch auf." Das genau ist es, was wir uns jetzt wünschen..!
Familienzimmer gibt es keins und so müssen wir uns aufteilen in den Schlafsaal für Jungen und den für Mädchen. Allerdings bekommen wir trotz der späten Stunde noch ein Abendessen und sitzen dann einige Zeit mit den Lästermäulern vor der Herberge. Wir lernen Thomas und Sonja, ein anderes Radlerpaar kennen, man redet, tauscht seine Reiseerfahrungen aus, wird müde und geht zu Bett. Doch wirklich müde sind offensichtlich nur die älteren Semester. Die jüngeren machen aus dem Schlafsaal die Hölle. Kissenschlachten sind angesagt, es wird auch schon mal jemand mit großem Gejohle aus dem Bett geholt, massive Wanderungsbewegungen zwischen den Schlafsälen sind zu beobachten und die Zeit schreitet unaufhörlich voran. Erholsamer Schlaf will sich nicht einstellen, bestenfalls Erschöpfungsschlaf.
Das Erwachen am Sonntagmorgen ist schmerzhaft. Für mich aus dem Jungenschlafsaal, weil die Nacht nur etwa zwei, höchstens drei Stunden dauerte und für meine bessere Hälfte, weil sich ihre Schultern infolge der übermäßigen Sonneneinstrahlung gestern in eine einzige riesige Brandblase verwandelt haben. An Eincremen ist überhaupt nicht zu denken, unter der dünnen Haut wabert das Wasser hin und her und Aufstechen ist bei dieser Blasengröße auch nicht angesagt. Ein Arzt für guten Rat oder erste Hilfe ist heute am Sonntag nicht erreichbar und ein Halstuch haben wir auch nicht mit - schwere Kleidung als Abdeckung ist nicht erträglich. Da hilft Sonja mit einem leichten Seidenschal und wir tauschen die Adressen aus, um ihn irgendwann nach der Reise wieder zurückgeben zu können.
Derart gegen die Sonne gut ausgerüstet, beschließen wir, oben auf dem mühsam erklommenen Berg zu bleiben und direkt von der Jugendherberge aus weiter Richtung Süden zu fahren - die tollen Wasserfälle haben wir vergessen... Also weiter in das Rohrbachtal. Gar nicht weit gekommen, bemerke ich, daß der Leerlauf meines Rades eigentlich überhaupt nicht mehr so leer läuft, wie er das sonst tat: Die Kurbeln drehen sich immer mit und wenn ich sie mutwillig anhalte, ertönt aus der Ritzelkassette hinter mir ein bedrohliches Knirschen.
Mitten im Wald ist da nicht viel zu machen und der Entschluß reift, so rasch, wie möglich in eine Stadt zu fahren, in der sich ein Fahrradfachgeschäft befindet. Aber sollte damit bereits Furtwangen das Ende unserer heutigen Etappe sein? Nein, erstens hat Sonntagmittag kein Geschäft geöffnet, zweitens ist uns dort kein Campingplatz bekannt, drittens gibt es keine Jugendherberge und mal eben, quasi im Vorbeilaufen, wird die Reparatur wohl nicht gemacht sein. Außerdem: So schlimm erscheint mir die Sache nicht, denn bergauf geht die Fahrt gut (nur bergab halt nicht so sehr) und wir versuchen nun doch, noch ein Stückchen weiter zu kommen.
Also fahren wir eine Weile die Schwarzwaldhochstraße entlang. Auch wenn es sich um eine belebte Bundesstraße handelt, die Ausblicke in die Landschaft sind schon sehenswert. Die Steigung bei der kalten Herberge allerdings auch und bei Waldau entscheiden wir uns schließlich, die Nebenstraße nach Titisee-Neustadt zu nehmen. Dort gibt es einen Campingplatz direkt am Titisee und im Ort selbst zeigt unsere Landkarte ein Fahrradgeschäft an.
Nachdem das Zelt aufgebaut ist, wird die Ritzelkassette mit einem Abzieher und einigen, von freundlichen Mitcampern geliehenen und zu einem mächtig langen Hebel zusammengebundenen Maul-, Ring- und Radmutterschlüsseln vom Hinterrad abgezogen und es zeigt sich, daß der Freilauf deswegen nicht mehr funktionierte, weil sich in der Kassette nur noch metallene Krümel befinden. Von der ursprünglich dort angesiedelten Mechanik ist kaum noch etwas übrig.
Am nächsten Morgen fahre ich mit dem tollen 10-Gang-Rad - jetzt merke ich überhaupt erst, wie ich mich mit den fünf Gängen doch anstrengen muß - und meiner Ritzelkassette als "Muster ohne Wert" nach Titisee-Neustadt und werde beim Fahrradhändler recht mitleidig angesehen. Woher ich das (!) Teil denn hätte und wieso ich nicht mit einem ganz normalen Ritzel führe. Hier in der Gegend würde niemand eine spezielle Übersetzung benötigen. Und außerdem führte er in seinem Laden so etwas auch gar nicht. Ich könne lediglich einen ganz normalen Ritzelsatz bekommen, so einen, wie ihn - nach seiner Meinung - jeder anständige Radler am Rad zu fahren hätte.
Derart beschämt ob meiner unbotmäßigen Bequemlichkeit, mit speziellen Bergübersetzungen in ein so lächerliches Mittelgebirge, wie den Schwarzwald fahren zu wollen, kaufe ich dem Mann still und bescheiden genau so einen Ritzelsatz ab, wie ich ihn zu Hause im Keller auch zu liegen habe - und kehre zum Zelt zurück. Das Wiederherstellen der Fahrbereitschaft geht viel schneller, als das Abziehen gestern und nach einigem Ruckeln hat sich die neue Kassette auf der Hinterachse bombenfest gezogen. Weil aber der Tag nun einmal bereits über die Hälfte abgelaufen ist, unternehmen wir noch einen schönen Spaziergang am Titisee und beschließen dieses Kapitel der Reise mit einem guten Abendbrot in einem nahen Restaurant am See. Hier bleiben wir noch einen weiteren Tag und füllen ihn mit Spazierengehen.