Am Freitag, den 18. Juli 1980, geht es dann wirklich los. Mit einer speziell für Berge berechneten Fünfer-Ritzelkassette am Hinterrad und einem neuen 10-Gang Damenrad ausgestattet, starten wir zu Hause in Hamburg Hummelsbüttel, um zunächst von Altona mit dem Zug nach Karlsruhe zu fahren. Dort soll unsere Schwarzwaldquerung beginnen. Auf dem Weg zum Bahnhof bricht aber bereits der Seilzug meiner Vorderradbremse und wir müssen uns sputen, um den Zug nicht zu verpassen - an Reparatur ist nicht zu denken, obwohl wir Ersatz im Gepäck haben.
Es ist bereits Nachmittag, als wir in Karlsruhe ankommen und es herrscht reger Feierabendverkehr in der Stadt. Daher wollen wir am Bahnhof, quasi direkt im Zentrum der Hektik, weder die eigentlich notwendige Seilzugreparatur durchführen, noch überhaupt lange verweilen. Also lautet die Devise: Aufsitzen, sich gen Süden wenden und ab zum nächsten Campingplatz!
Um uns herum herrscht alles andere als Urlaubswetter. Die Wolken hängen tief, drohen mit Regen und es ist ziemlich kalt. Vom Schwarzwald ist weit und breit nichts zu sehen, dazu der chaotische Verkehr während unserer Bemühungen, die Stadt möglichst rasch zu verlassen; die Motivation ist eher gemäßigt - zumal es langsam dunkel wird. Aber wir schaffen es, doch noch bis hinter Malsch zu kommen und schlagen in Waldprechtsweiher zum erstenmal unser neues Zelt auf. Da es sich weitgehend um einen Platz für Dauercamper handelt, müssen wir sehen, wo wir etwas zu essen bekommen - und das gelingt uns in Malsch, wo wir auf der Suche nach einem Restaurant in ein Bläserfestival geraten und nun im Bierzelt bei richtig toller Blasmusik (nein, nicht humpta, humpta, Bierzeltkapelle, sondern Gershwin und Musicals) doch noch in Urlaubsstimmung geraten.
Leider will das Wetter am nächsten Tag immer noch nicht richtig mitspielen und wir haben ja noch mein Rad zu reparieren; gestern war es bereits zu dunkel dazu. Also werkeln wir den Morgen am Rad herum und beschließen, am Nachmittag noch einmal zum Bläserfest zu gehen. Uns treibt ja niemand und der Schwarzwald wird bis Sonntag auch nicht verschwunden, sondern höchstens etwas sonniger sein.
Sonntagmorgen: Wir packen im Nebel und bei Nieselregen unsere sieben Sachen zur Weiterfahrt - nichts mit sonnig... Und da wir ja nicht asketisch leben wollten, haben wir ein kleines Transistorradio dabei und "wissen" somit, daß das Wetter auch in den nächsten Tagen eher widerborstig bleiben wird. Dabei haben wir doch gerade erst begonnen höher in die Berge (und damit in die Wolken) hinauf zu fahren. Also entschließen wir uns zunächst einmal, genau das nicht weiter zu tun und drehen nach Westen ab, Richtung Rhein. Dort soll es ja bei schlechtem Wetter immer noch etwas besser sein, als im Mittelgebirge.
So fahren wir über Selbach hinauf nach Baden-Baden und dort direkt am Kasino vorbei, wo morgens natürlich noch gar nichts los ist. Dann rollen wir meist bergab über Sinzheim und Halbertstung nach Söllingen, wo es einen Campingplatz direkt am Rhein geben soll. Den gibt es auch, aber er liegt mitten in einem Baugebiet für ein Freizeitzentrum und ist eingezäunt, wie ein Militärgelände. Kein Baum, kein Strauch und wenn man zum Rhein will, muß man durch eine Dreh-Gittertüre, eine Personenschleuse, bei der es hinaus, aber nicht wieder hinein geht; fehlt nur noch der Wachposten - extrem romantisch also.
Trotzdem, wir schlafen gut und bauen am nächsten Morgen wieder unseren selbstgebastelten Frühstückstisch auf. Dann allerdings trifft uns der Schlag: Die Assoziation des Platzes mit einem Militärgelände wird brutale Realität. Wir haben Tieffliegeralarm! Nur wenige Meter über dem Platz donnern Düsenjets über den Kaffeetisch, drehen in sicherer Entfernung und setzen erneut zum Angriff auf die leckeren Brötchen an (jetzt merken wir, auch diesmal zuwenig Sachen mitgenommen zu haben: es findet sich weder ein Luftballon noch ein Drachen im Gepäck).
Unter dem ohrenbetäubendem Lärm der hartnäckig wiederkehrenden Flieger packen wir ein und fliehen. Da prangt an einem Haus, ganz in der Nähe des Geschehens ein Plakat, auf dem ein Tiefflieger über einer glücklich dreinschauenden Familie abgebildet ist und darunter steht: "Wir fliegen für Ihre Sicherheit". Irgendwie hätte dort auch stehen können: "Wir fliegen, damit Sie in Ruhe frühstücken können."
So, wohin fliehen wir überhaupt? Zurück in den Wald, den Schwarzwald? Nein, dort hängen die dicken Regenwolken jetzt bis in die Täler. Das sehen wir aus "sicherer" Entfernung. Aber wie steht es denn mit Frankreich? Das ist ja gleich gegenüber, auf der anderen Rheinseite und ob nun die Düsenjets deutscher, amerikanischer oder französischer Provenienz sind, kann uns eigentlich egal sein. 1972 waren wir schon einmal in Straßburg gewesen und hatten unser Zelt auf einem recht ordentlichen Platz an einem Badesee im Süden der Stadt aufgestellt. Der sollte doch wiederzufinden sein und als Basislager für ein paar Tage Straßburg dienen können.
Mit der Fähre bei Drusenheim geht es also über den Rhein und auf der französischen Seite ist erstmal ein Stop beim Zoll angesagt. Ausweise zeigen und sehr freundlich - "was haben Sie bitte in dem Ding dort vorne?". Gemeint ist der alte Tankrucksack auf meinem vorderen Gepäckträger. Da ich nicht wieder mit "Tütensuppen" antworten will, was zwar durchaus richtig gewesen wäre, aber die Erinnerung an den Zöllner in Schweden ist noch wach, lautet die Antwort "Geschirr", was letztlich ja auch stimmt.
Leider können wir neben Schwedisch auch kein Französisch und so ist anzunehmen, daß "Geschirr" dummerweise das französische Wort für "Tütensuppen" ist, denn der Effekt der Antwort ist derselbe: Alles auspacken und vorzeigen bis es dem Zöllner peinlich wird und wir "unsere Küche" wieder einpacken dürfen. Zum Ausgleich bietet er an, uns zu fotografieren... Damit haben wir also den Vormittag gut herumbekommen und können jetzt beruhigt nach Straßburg fahren.
Nach etwa 20 Kilometern Landstraße, die uns wieder daran erinnern, daß in den Ländern Europas mit unterschiedlichem Temperament gefahren wird (z.B. das Kreuzungs-Spiel "Wer hat die besseren Nerven": Zwei Autos fahren mit unvermindert hohem Tempo auf eine Kreuzung zu und erst, wenn der Crash aus deutscher Sicht kaum noch zu vermeiden ist, bremst doch einer - und hat natürlich das Spiel verloren), erreichen wir Straßburg. Allerdings finden wir uns im Zentrum der Stadt plötzlich in einem Kreisverkehr wieder und müssen inmitten des Feierabendverkehrs drei Runden um einen - zugegeben imposanten - Brunnen drehen. Dann fassen wir uns ein Herz und fahren, ohne nach hinten zu schauen, einfach aus dem Kreisel diagonal wieder an den Rand und biegen ab. Bei diesem Manöver halten tatsächlich alle Autos an, um uns durchzulassen. Auf Anzeigen der Fahrtrichtungsänderung und schüchterne Versuche, an den Rand des Kreisels zu gelangen, hatte rundenlang niemand reagiert.
Nun, schließlich finden wir auch den Zeltplatz wieder - er heißt "Plage Baggersee" - und bauen direkt am selben auf. Vielleicht provozieren wir ja damit das trübe Wetter...
Ja, wirklich! Am nächsten Morgen sind die Wolken gewichen und die Sonne kommt hervor. Gut gelaunt fahren wir in die Stadt und schauen das Münster an, bewundern die Fachwerkhäuser, die darum herum noch stehen und machen einen Abstecher zum Gebäude des Europaparlaments. Ein anstrengender, aber sehr lohnender Tag, denn Straßburg ist wirklich sehenswert und hat viele hübsche Ecken. Und weil das Wetter nun doch recht schön ist, bleiben wir noch einen faulen Tag am Baggersee zum Baden.